Wieder ist ein Jahr rum und wieder ist das Wetter alles andere als gut, als am letzten Wochenende die Extraschicht im Ruhrgebiet startet. Extraschicht, für alle die es nicht auf Anhieb wissen, ist die „Nacht der Industriekultur“. Licht- und Feuerzauber, Theater und Musik, Führungen und Feuerwerke, Zutritt zu außergewöhnlichen ehemaligen Industrie- und Zechenstandorten und das quer durchs Ruhrgebiet an 48 Spielorten in 20 Städten. Für alles reicht ein Ticket und ein Abend Zeit. Die Extraschicht startet immer am letzten Juniwochenende, vielleicht schon mal ein Tipp für 2017 :-).
Da ich nicht direkt im Ruhrgebiet wohne, reise ich gegen 17.15 Uhr mit dem Auto an. Pünktlich muß man schon sein, denn Parkplätze sind häufig rar. Ich habe mir dieses Mal nur zwei Spielorte vorgenommen, denn ich möchte dieses Jahr ausnahmsweise auf den Körperkontakt in den häufig vollen Shuttelbussen verzichten. Ich beginne in Essen auf Zeche Zollverein und der Wettergott ist mir zunächst nicht holt. Auf der Anreise überlege ich, ob ich die Paddel rausholen müßte. Also geht es auf Zollverein zunächst in Halle 2. Hier sollen 4 ältere Kurzfilme des Blicke – Filmfestivals den Regen und die Wartezeit bis zur ersten Führung durch die Ausstellung „Rock and Pop im Pott“ im Ruhrmuseum überbrücken.
Präsentiert werden u.a die Filme „Ruhrpottromantik – Eine filmische Dokumentation zum Thema Metropole Ruhrgebiet“ und „Ich geh mit meiner Laterne“ einem Cowboy, der barfuß und im OP Hemdchen mit nacktem Po (fragt nicht 😉 ) über die Halde Schurenbach in Essen läuft. Über Kunst kann man (nicht) streiten 🙂 , schaut rein, ich hänge euch die beiden Videos ans Ende dieses Blogbeitrags. Um 19.00 Uhr, es regnet immer noch, startet die Kurzführung durch besagte „Rock and Pop“ Ausstellung in der alten Kohlenwäsche des Ruhrmuseums. Die 45 Minuten der Kurzführung reichen bei weitem nicht aus, aber ich habe das Glück, daß Vera Conrad, eine der Kurratorinnen (die einzige unter Männern), mit großer Begeisterung erzählt, viel mehr, als in die 45 Min. passen. Warum sich die Ausstellung auch außerhalb der Extraschicht lohnt könnt ihr hier in einem WAZ Artikel lesen.
Anschließend stand es uns frei, noch weitere Minuten im Museum zu verbringen. Als ich gegen 20.00 Uhr wieder meine Nase an die frische Luft vor der Zeche strecke, hat es aufgehört zu regnen. Nun heißt es sich über das Gelände treiben lassen, den standortbezogenen Programmflyer in den Händen. Als erstes entdecke ich die „Herde der Maschinenwesen“ auf dem Ehrenhof. Die Künstlergruppe Foolpool präsentiert Wesen, die mit leuchtenden Augen die Zuschauer gleich am Eingang überraschen. Leben die Wesen? Nein, (Zitat der Webseite) „Wir haben den Fahrrädern das Laufen beigebracht“ :-D. Ich wechsel rüber in Halle 5 und erlebe, wie Zauberwürfel (die nur eine weiße Seite haben) durch Zuschauer verändert eine Multimediashow steuern. Gleich gegenüber hängt Anna Abrams kopfüber am Vertikalseil und enfacht kurze Atemstillstände bei den Zuschauern, wenn sie sich aus großer Höhe nach unten fallen läßt und sich selbst, 50 cm vor dem Boden, im Seil hängend wieder auffängt.
Während ich aus der Halle wieder herauskomme werde ich von einem Stelzenläufer in toller Kostümierung überrascht und der Sandschreiber Skryf (ein Laptop gesteuertes Dreirad, daß mit Sand Schriften auf dem Boden hinterläßt) ist wieder da. Ich gehe weiter vorbei an Currywurst und gebranten Mandeln und erreiche das Parkgelände zwischen Zeche und Kokerei. Was macht die Person da zwischen den Bäumen? Die Besucher bleiben stehen. Der Mann, ganz in weiß gekleidet, wickelt die Bäume mit einer Art Tuch ein. Davor steht so ein Servierwagen wie man ihn aus dem Krankenhaus kennt. Plötzlich wird das Tuch rot, die Bäume beginnen zu bluten. Faszinierend und etwas verstörend. Ich will weitergehen, aber bereits 50 Meter weiter noch eine Gestalt im Wald. Eine alte Frau sitzt auf einem Erdhügel und hantiert … sollen das Leichenteile sein? Es ist nur eine ausgediente Schaufensterpuppe. Sie vergräbt deren Arme und Beine. Ich glaube der Hirsch in roter Lederhose der eben noch das Alphorn blies gehörte auch dazu :-o.
Es dämmert langsam und nur spärlich wird die Szenerie beleuchtet. Noch suspekter wird es am Ende des Waldes. Eine Kunststoffkugel mit Nebel, verhüllt deren eigenen Inhalt. Die Kugel platzt auf, der Nebel entweicht und heraus kommt ein übergroßer Embryo. Gleich gegenüber schwimmt ein Fisch auf dem trockenen, ringt um Wasser, das kommt dann zwar aber nur wenig. Während man als Besucher noch den sich windenden Fisch beobachtet kommt der Embryo von der anderen Seite dazu. Alles eine surreale Situation, die das Theater Titanick unter dem Namen „Sonnambulo“ hier vorführt. Spannend, verrückt, fesselnd und nachdenklich läßt mich die Vorführung zurück. Ich begebe mich in Richtug Kokerei zum RAG Gebäude, das mir dann aber doch etwas zu abseits liegt. Auf dem Weg dahin wenig zu sehen, ich drehe ab und werde an der Zeche Zollverein gleich wieder durch einen weiteren Act in Empfang genommen.
Daniela & Marcello und Tina Bodenhop zeigen eine akrobatisch turbulente Liebesgeschichte im Flair der 1920er Jahre. Verkleidung, Seilakrobatik, Vertikaltuch und Musik werden zu einer Show verquickt, die mich wiederum verweilen läßt. Ich wollte längst auf dem Weg zum nächsten Spielort der Extraschicht sein, aber dieses Mal paßt es einfach zusammen, was ich auf Zollverein erleben darf. Nach ein paar weiteren Fotos, die ich wechselweise mit Kamera und Handy mache, heißt es dann aber doch aufzubrechen, denn ich möchte mir in Duisburg noch das Mitternachtsfeuerwerk ansehen. Also los.
Es ist ca. 23.53 Uhr als ich das Auto in Duisburg unweit des Innenhafens abstelle. Noch 7 Minuten, ich lege einen Schritt zu, denn ich habe keine Ahnung, wo das Feuerwerk genau startet. Noch 3 Minuten, ich biege ab Richtung der Stelle, an der schon lange mal ein Hotel stehen sollte. Und richtig getippt, drei, zwei, eins, die Musik startet und schon gehen die ersten Raketen in die Höhe. Ich wusel mich nach vorne durch das Publikum und genieße die Show. Danach sollte Feierabend sein, aber ich stand so unter Adrenalin, daß ich erst die bunt beleuchteten Fenster der drei Boothäuser und dann noch die gelungenen Holzköpfe in einer der alten Lagerhallen im „Garten der Erinnerung“ fotografieren mußte. Der Abend hätte vermutlich noch Stunden gehen können, aber so langsam hieß es Abschied nehmen von der Extraschicht 2016, die Extraschicht 2017 kommt bestimmt.
Und jetzt noch die anfangs erwähnten (älteren) Videoclips aus dem Blicke Filmfestival:
Der Vollständigkeit halber, auch hier gibt’s noch ein schönes Timelapse Video. Und wer jetzt noch Fotos gucken möchte, die gibts wieder auf Ruhr 2016 bei Flickr oder Ruhr 2016 bei Google Fotos.
[…] Weil meine Schwiegermutter am 24. Juni Geburtstag hat und dies meist mit dem letzten Wochenende im gleichen Monat übereinstimmt, sind wir zu diesem Zeitpunkt oft in der alten Heimat. So schön die Feierei ist, so schade ist es, dass ich deshalb wahrscheinlich nie an der Extraschicht teilnehmen kann, die Michael dieses Jahr besucht hat: Extraschicht 2016. […]